Heute wagen wir einen Blick über den Läufer-Tellerrand:
Stellt euch vor ihr lauft ganz alleine durch wunderschöne skandinavische Wälder ohne einen Weg zu benutzen. Stellt euch vor ihr rennt mit hohem Tempo entlang venezianischer Kanäle. Vielleicht springt ihr unter den Tiroler Gipfeln über einen klaren Bergbach und landet auf weichem Gras. Wer hat schon mal einen Lauf durch den großen Basar von Istanbul gewagt?
Wer weiß eigentlich, dass es eine Sportart gibt, die all das Wirklichkeit werden lässt, eine Sportart, bei der jedes Training zu einem Abenteuer in der Natur wird, bei der man an versteckte Orte kommt, vielleicht direkt hinter der Haustür oder aber in den schönsten Landschaften weltweit?
Manch einer wird jetzt auf Trailrunning tippen, aber ist das nicht ein Marketinggag der Sportartikelfabrikanten und Brausehersteller? Ich spreche vom Orientierungslauf. Wer von diesem Sport bisher noch nicht viel gehört hat, bekommt im folgenden Video einen guten ersten Eindruck:
Orientierungslauf ist eine Hatz durch den Wald oder die Stadt, bei dem man eine Reihe von Kontrollpunkten abklappert, deren Lage und Reihenfolge auf einer ziemlich detaillierten Landkarte eingezeichnet sind. Körper und Geist arbeiten auf Hochtouren, die Karte wird während des Laufens gelesen. Der Clou: Die Strecke bleibt bis zum Start geheim, das Gelände ist vorher gesperrt, häufig hat man auch nur wenige Informationen über das Laufgebiet. Erst mit dem Startsignal erhält man die Karte, das Umdrehen derselben ist immer eine Überraschung. Blitzschnell muss die schnellste Route zwischen den Kontrollposten erkannt werden, wobei die kürzeste nicht immer auch die schnellste sein muss. Der Start erfolgt gewöhnlich als Intervallstart.
Für den Weg zwischen zwei Posten stehen einem alle Himmelsrichtungen offen, 360 Grad, die volle Freiheit. In der Stadt kann man aufgrund von Brücken oder Unterführungen auch mal zwischen mehreren Ebenen wählen. Soll ich wirklich über den Hügel rennen oder ihn kraftsparender umlaufen? Soll ich hier durch den Bach waten oder doch bis zur Brücke laufen? Jedes Laufgebiet hat seine Tücken, jeder Läufer seine Stärken. Es wird selten zwei Läufer geben, die gleich antworten werden.
Die Aufgabe „Orientierungslauf“ kann am besten bewältigen, wer zwischen den läuferischen und geistigen Fähigkeiten ein Gleichgewicht herstellt. Wer zu schnell läuft wird bald im Wald stehen und nicht mehr wissen wo er ist. Der beste Orientierungsläufer ist nicht immer der schnellste Läufer. Gerade hierin zeigt sich, dass Orientierungslauf nicht nur ein Sport für Eliteathleten, sondern auch und vor allem ein Sport für Jedermann ist. Dennoch sollte man das läuferische Niveau in der Weltspitze nicht unterschätzen: Die Top-Läufer haben 3000-Meter-Zeiten von 8:15 Minuten und 5000-Meter-Zeiten von 14 Minuten aufzuweisen – denken können sie ebenso flott. Allgemein gilt dennoch: Wer Defizite im läuferischen Bereich hat, kann durch kluge Routenfindung einiges wettmachen. Der schnelle, aber im Orientieren unerfahrene Straßenläufer sollte sich seiner Stärke besinnen und den Umweg über einen befestigten Weg in Kauf nehmen. So entstehen reizvolle Duelle zwischen Jung und Alt, Dick und Dünn, feurigen Frischlingen und klugen alten Hasen.
Demjenigen, der nicht so sehr an der Leistung interessiert ist, sei gesagt: „Es ist das Erlebnis, das zählt“. Dieser so oft strapazierte Spruch gilt im Orientierungslauf tatsächlich. Es sind die Bewegung in der Natur abseits der ausgetretenen Pfade, die kindliche Freude, die einen immer wieder befällt wenn man den nächsten Posten gefunden hat und die geforderte Balance zwischen Muckis und Köpfchen, die jeden einzelnen Lauf zu einem einzigartigen Erlebnis werden lassen.
Als Mittelstreckenläufer habe ich beim Training ein paar Orientierungsläufer im Stadion getroffen und dann gedankenlos gefragt, ob ich denn mal einen Orientierungslauf mit ihnen absolvieren könnte. Jetzt stecke ich mitten in der Metamorphose vom Bahn- zum Orientierungsläufer und komme nicht mehr los: was für eine faszinierende Sportart!
Weitere Informationen: Wer jetzt an einer nüchterneren Betrachtung des Orientierungslaufs interessiert ist sei auf den Wikipedia-Artikel verwiesen. Wettkampfaspiranten finden Termine auf der Internetseite des Technischen Komitees Orientierungslauf im Deutschen Turner-Bund. Diejenigen, die zuerst trainieren möchten, was zu empfehlen ist, wenden sich im Rhein-Main-Gebiet an den OLV Steinberg oder an das (Gymnasion Offenbach). Das Portal zum internationalen Orientierungslaufgeschehen ist („World of O“).
Geschrieben von Axel Koppert
Schöner Artikel!
Beim ersten Absatz – wenn man vom Rennen mit hohem Tempo absieht – musste ich sofort an Geocaching denken.
Kein Foto von Axel beim Orientierungslauf für diesen Artikel!?