Nassgeschwitzt am frühen Sonntagmorgen. Es ist gerade einmal zehn vor acht Uhr und die ersten 350 Höhenmeter sind bereits absolviert. Auf die Hellgarter Zange sind wir gelaufen – vielmehr gestürmt: ich bin kaum hinter Johannes hergekommen, der auch die steilsten Passagen scheinbar mühelos hinauflief, während ich meinen Oberschenkeln schnaufend alles abverlangen musste. Der Anfang auf dem Rheingauer Klostersteig ist schließlich aber nach gerade einmal 24 Minuten gemacht: wir haben Aussichtsturm und Berggasthaus auf der höchsten Erhebung unserer Route erreicht. Und natürlich geht es direkt weiter.
Darauf habe ich mich schon die ganze Woche gefreut.
Zuvor sollte es aber bereits schnell werden. Nach langer pandemiebedingter Abschottung gibt es nach und nach wieder mehr Leben: wir haben wieder erste Ausflüge mit unserem Camper unternommen, jetzt war es auch ebenso vertretbar, wieder Freunde über ein Wochenende zu besuchen. Im schönen Rheingau wollten Johannes und ich nicht nur eine Fastest Known Time (FKT) auf dem Rheingauer Klostersteig aufstellen, sondern auch vollenden, was Johannes bei unserem letzten 5-km-Test knapp nicht gelungen war: die 17 Minuten zu knacken.
Ein sportlicher Doppelschlag
Eigentlich wären wir gerne im Stadion gelaufen, sämtliche Sportplätze waren aber offiziell gesperrt. Wir hätten auf eine 200-m-Bahn einer Schule ausweichen können, schnell laufen steht bei diesen Kurvenradien aber auf einem anderen Blatt. Dann lieber am Rhein!
Vom Oestricher Kran liefen wir in Richtung Wiesbaden. Wendepunkt war dann am Weinprobierstand (ohne einen Schluck Rebensaft, auch am Sonntag würden wir sämtliche Angebote ausschlagen). Zu Beginn dachte ich noch, es könne ein richtig guter Tag werden. Nicht nur meine Zeit vom letzten Test würde ich unterbieten können, vielleicht ginge es sogar in Richtung 16 Minuten. Die Schuhe liefen wie von allein, zwei Mal steigerten außerdem wenig kompromissbereite Gänse meinen Adrenalinspiegel erheblich. So war der erste Kilometer nach 3‘13 gelaufen. Der zweite Kilometer war zwar etwas langsamer, laut strava-Segment lag der Schnitt für die erste Hälfte aber bei ordentlichen 3‘16/km. Und Johannes war nicht weit hinter mir!
Dann aber blies uns die Erklärung, warum es zu Beginn so leicht ging, ins Gesicht: Gegenwind. Zwar nicht stark, aber gerade für den Kopf herausfordernd. Der musste jetzt stark sein und antreiben statt ans Aufgeben denken: Sollte ich mich zu Johannes zurückfallen lassen und ihn zu einem schnellen Schlusskilometer treiben? Nicht schwach werden, durchziehen! Trotz gefühlter Endbeschleunigung wurde ich aber nicht mehr schneller und lief die 5 km in 16’47. Solide, in Ordnung. Mehr aber auch nicht. Dafür braucht es wohl nicht nur Gänse-, sondern richtiges Wettkampfadrenalin!
Nun, der Auftakt war gemacht. Wir nahmen es als Aufgalopp – nach dem letzten Test lief bei uns beiden der lange Lauf am Sonntag hervorragend.
Auf geht’s zum Rheingauer Klostersteig!
Für unser Klostersteig-Abenteuer am Sonntag standen wir früh auf. Bis zum Frühstück wollten wir zurück sein. Von Clif gab es im Vorfeld ein Verpflegungspaket, das wollten wir im Zuge des FKT unter Realbedingungen testen. Zum Frühstück gab es entsprechend neben Kaffee und viel Wasser einen Riegel, während unseres virtuellen Rennens hatte ich fast durchgängig einen Clif-Blok im Mund, das war sehr angenehm. In meiner Laufweste hatte ich außerdem noch ein Gel für alle Fälle sowie 500 ml zu trinken. Verpflegungstechnisch sollte das ausreichen, immerhin sprechen wir von nicht einmal 2,5 Stunden.
Ach ja: Geld für den Notfall sowie mein Handy hatte ich natürlich auch dabei. Für unseren FKT-Versuch auf dem Rheingauer Klostersteig hatte ich einen live-Ticker auf raceday.me eingerichtet. Da Tim uns nach 12 km ein „Auf geht’s!“ mit auf den Weg gab, hat das wohl auch gut funktioniert. Allerdings muss man sich anmelden, um den Fortschritt einsehen zu können. Und so wirklich weiß man daheim auch nicht, wie der Rennende im Rennen liegt, weil nur der gewünschte Gesamtschnitt heruntergebrochen wird – unabhängig von Steigungen beispielsweise.
Voller Tatendrang trafen wir also am frühen Sonntagmorgen am Kloster Eberbach, eine ehemalige Zisterzienserabtei, die für Weinbau berühmt und durch romanische und frühgotische Bauten Kunstdenkmal Europas ist, ein. Auf dem dortigen, zu diesem Zeitpunkt noch völlig verwaisten Parkplatz, stellten wir Auto Nr. 2 ab – Auto Nr. 1 erwartete uns seit gestern bereits in Aulhausen (eine Punkt-zu-Punkt-Strecke ist immer auch eine logistische Herausforderung). Ein Foto vor dem Start, ein Blick auf die Hinweistafel – hier fehlt noch ein QR-Code zur FKT-Strecke –, ein paar kurze Meter fingiertes Einlaufen, ein Abklatschen auf Abstand. Es konnte losgehen! Drei, zwei, eins: ein Druck auf den Startknopf der Uhr.
Ein Steig über Pfade und Wege
Und wie es dann losging! Nach nur wenigen Metern auf der Straße vom Parkplatz ging es links ab und quasi vertikal bergauf. Konnte ich schon direkt ins Wandern wechseln? Johannes flog davon, da konnte ich nur nachsetzen. Auch auf die Gefahr hin, dass wir schon auf den ersten vier Kilometern überziehen würden und hinten raus nichts mehr ging.
Bald war aber die erste Rampe geschafft, es wurde kurzzeitig flach. Dann zeigte das Schild des Klostersteigs wieder in den Wald. Teils über schmale Pfade, teils über Wege, auf denen wir nebeneinander laufen konnten ging es in der Folge mal steil, mal steiler hinauf zur Hallgarter Zange. Kein Wunder, dass wir oben bereits nassgeschwitzt waren. Der Sage nach beschlug dort übrigens einst ein Schmied ein Pferd für den Teufel persönlich und bekam dafür eine Zange, die alles in Gold verwandelte. Wegen des Unglücks, das ihm die Zange brachte, stürzte sich der Schmied aber vom dortigen Felsen und die Zange verlor mit seinem Tod ihre Magie. Wir fanden weder Zange noch Unglück, sondern stürzten uns rennend direkt wieder bergab.
Was folgte, war neben vereinzelten Schotterpassagen ein Pfad, der in der Szene wohl als „flowiger Trail“ bezeichnet wird. Ein Pfad also, der sich bergab schlängelt und auf dem man es so richtig laufen lassen kann, die Füße bisweilen mühelos über nadelbedeckten Boden fliegend. Durch die jetzt deutlich höhere Laufgeschwindigkeit spürte ich von gestern die hintere Oberschenkelmuskulatur ein wenig, auch vom Bauch her fühlte ich mich nicht zu 100 % wohl. Hatten wir etwa keinen guten Tag erwischt, an dem ich Johannes bremsen würde?
Nach dem ersten Drittel voll im „Flow“
Je näher wir den Pfingstbachwiesen (etwa km 9) kamen, desto flacher wurde es und desto besser ging es mir. Nachdem eine kurze matschige und dadurch rutschige Passage überwunden war und ich wieder Vertrauen zum Grip gefunden hatte, ging es mir im Verlauf des Rennens zum ersten Mal so richtig gut. Jetzt war ich scheinbar wach und leistungsbereit. Wie gut es uns geht realisieren wir ja oft erst durch den Kontrast: Nach Regen ist der Sonnenschein viel schöner. So war es jetzt auch bei mir. Durch das leichte Unwohlsein zu Beginn ging es mir jetzt noch viel besser: ein richtiges „Runner’s high“, das fast bis zum Schluss anhielt.
Das war noch besser, weil jetzt die nächste Herausforderung anstand: die erste Gegensteigung. Nach längerem Bergablaufen kann es vorkommen, dass die Beine so gar nicht mehr bergan laufen wollen. Heute kein Problem. Da zahlten sich die IGMM-Ausfallschritte sowie die TVTC mit den bereits absolvierten Höhenmetern aus.
Auf dem Weg zu Schloss Vollrads (ca. km 12), ein als Wasserburg errichteter Wohnturm nördlich von Winkel, neben dem später Herrenhäuser errichtet wurden, veränderte sich die Landschaft, durch die wir liefen. Verläuft der Klostersteig zu Beginn fast ausschließlich im Wald, spuckt einen der Pfad später auf den rheinischen Weinbergen aus, von wo man einen herrlichen Ausblick hat. Im Scherz meinte ich zu Johannes, dass wir eine Kamera hätten mitnehmen sollen. Einfangen können hätten wir die Schönheit des Augenblicks aber wohl auch mit viel Zeit und Aufwand nicht.
„Johannes, wir brauchen eine Drohne!“
Der Rheingauer Klostersteig sei im Zuge dessen auch denen empfohlen, denen es nicht um eine FKT geht. Das hatte ich bereits geschrieben: mit den FKTs geht es mir nicht vornehmlich um die Rekorde, sondern vielmehr auch darum, schöne neue Gegenden zu entdecken. Der Klostersteig hat hier mit seinem Zusammenspiel aus verschlungenen Pfaden und herrschaftlichen Ausblicken auf Rhein und Klöster bzw. Schlösser einiges zu bieten.
Fast allein unterwegs
Die frühe Uhrzeit, zu der wir gestartet waren, hatte nicht nur die offensichtlichen Vorteile, dass wir zum Frühstück zurück wären, dass weniger Leute unterwegs waren (sind wir überhaupt wem begegnet?) und das Wetter angenehmer war (leicht kühl zu Beginn, erst gegen Ende schwül werdend), sondern bescherte uns auch unerwartete und faszinierende kurzzeitige Begleiter: am Gegenanstieg im Wald querte eine Hirschkuh unseren Weg, später sahen wir noch einen Hasen sowie diverse Greifvögel. Natur pur.
Bei ca. km 14 hatten wir Schloss Johannisberg, ein traditionsreiches Weingut mit Basilika, das der Legende nach auf Karl den Großen zurückzuführen ist, passiert. Als nächstes konnten wir in der Ferne die Internatsschule Schloss Hansenberg für besonders begabte, leistungsmotivierte und sozial kompetente Schüler sehen, bevor wir Kloster Marienthal erreichten.
In den Weinbergen, in denen es mächtig heiß werden kann, läuft man meist auf grasbewachsenen Wegen. Oft geht es auf diesem Streckenabschnitt um spitze Kurven, sodass man an Geschwindigkeit verliert. Durch das Zusammenspiel aus konzentriertem Laufen, gutem Befinden und schönem Ausblick machte der Klostersteig hier aber besonders viel Spaß: unser FKT war wirklicher Typ I-Spaß, nicht nur Typ II. Das war auch die Bestätigung: wir waren nicht zu schnell auf die Hellgarter Zange gestürmt!
Der kurze Abschnitt durch das Kloster Marienthal, eine ehemalige Wallfahrtskirche der Franziskaner mit Bänken im Freien, die sich gerade jetzt zum Gottesdienst eignen, wo laut Überlieferung der blinde Jäger Hecker Henn auf wundersame Weise Heilung erfuhr, weil er vor einem Marienbild im Wald gebetet hatte, war dann eine schöne Abwechslung, bevor ein richtig knackiger Anstieg folgte. An dieser Rampe wechselte ich wirklich kurz in den Wanderschritt, bevor wir, sobald es wieder flacher wurde, laufend weiter Druck machten. Weil es uns beiden gut ging, blieben wir weiter am Drücker, obwohl wir auf den ersten 20 km schon sieben Minuten auf die bisherige Bestzeit herausgelaufen hatten.
Endspurt bis Aulhausen
Am folgenden Bergabstück packte ich den Marathonschritt aus: möglichst flott laufen, während man so wenig Energie wie möglich verbraucht. So ging es zügig vorbei an der Ruine Plixholz und dem Nothgotteskopf. Das Kloster Nothgottes ist ein weiterer Wallfahrtsort und Zisterzienser-Kloster entlang des Klostersteigs.
Während ich mich zwischenzeitlich – voll im Flow – darüber gefreut hatte, dass wir noch einige Kilometer zurücklegen durften, war ich im Finale doch froh, dass wir nicht noch zehn weitere Kilometer vor uns hatten. Dieses Finale läutete der nochmals steile Anstieg vorbei am UNESCO Weltkulturerbe Abtei St. Hildegard ein. Hier hatte ich mir nicht nur bereits in die Gegenrichtung auf unserem Rückweg vom Niederwalddenkmal ein Segment geholt, die Abtei hatten Svenja und ich bereits mit der hessenschau virtuell von innen gesehen. Auch hier begegneten wir heute aber niemandem, auch hier hätte man klasse Bilder machen können.
Oben angekommen ließen wir es auf den letzten vier Kilometern nochmal richtig rollen, schließlich hatte Matthias (Krah) sein Interesse an der FKT auf dem Rheingauer Klostersteig verkündet. Viele Grüße an dieser Stelle, wir haben es dir möglichst schwer gemacht! Der Gegenwind, der uns am Vortag noch gebremst hatte, sorgte heute nur für angenehme Kühlung und konnte uns nicht mehr aufhalten.
Es ging am Ebentaler Hof vorbei und abschließend nochmal über schmale Pfade. Obwohl der Steig grundsätzlich gut ausgeschildert ist, hätte ich mich ohne den ortskundigen Johannes mindestens zweimal verlaufen. Dann war das Ortsschild Aulhausens erreicht. Ein letztes Stück bergab, dann liefen wir jubelnd über die virtuelle Ziellinie: wir hatten die vorige Bestzeit um mehr als zehn Minuten auf nunmehr 2h18’09 verbessert!
Der Rheingauer Klostersteig: Zur Nachahmung empfohlen!
Nach einer kurzen Auszeit auf dem nächstgelegenen Bordstein und dem obligatorischen Zeckencheck (zum Glück keine entdeckt!) schlenderten wir dann zu Auto Nr. 1. Noch beflügelte die Euphorie, die Bestzeit so deutlich unterboten zu haben. Wie sehr ich im Eimer war, merkte ich dann erst nach dem Frühstück: trotz der warmen Außentemperatur wurde mir nochmal richtig kalt. Es halfen Corinnas und Johannes‘ leckerer, veganer Pilz-Artischocken-Nudel-Auflauf, Kuchen, Kekse und Eis. Nebst Wasser und Kaffee natürlich. Vielen Dank für eure Gastfreundschaft!
Johannes hat übrigens ebenso berichtet. Seinen Blogpost findet ihr hier.
Der Überblick
Datum: So, 14. Juni 2020
Ort: Oestrich-Winkel, Deutschland
Wettkampf: FKT Rheingauer Klostersteig
Distanz: 29,5 km, 920 hm
Zeit: 2:18:09 min
Crew: – (unsupported)
Schuhe: Hoka one one Rincon
Ernährung: Clif Bloks (5 Stk.)
Fotos: Svenja und Johannes
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